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  • AutorenbildSteffen Graupner

Wettlauf zum Pol

Aktualisiert: 28. Okt. 2020

17. August 2020

88° 24'N

180 km vom Pol

22 Uhr Bordzeit (22 Uhr Jena), Polarstern



Drei Tage lang liegen Tryoshnikov und Polarstern Seit an Seit im Eis, dann ziehen wir Teilnehmer von Leg 5 rüber auf die Polarstern. Wie immer ist dafür eine ziemlich ausgeklügelte Logistik vonnöten – müssen doch über 70 Menschen und ihr ganzes Gepäck für die monatelange Arbeit im Eis von einem Schiff ins andere transportiert werden. Und zwar ohne irgendetwas zu vergessen.


Früh um 9 Uhr räumen wir dazu unsere Kammern auf der Tryoshnikov leer, das private Hauptgepäck geht in einen leeren 20-Fuss-Container und der wird von den Kränen auf das Helideck der Polarstern gehoben. Leg 4 auf der Polarstern nimmt den Container mit unserem Gepäck entgegen, räumt die Seesäcke und Rucksäcke ins Nasslabor und füllt den Container mit ihrem Gepäck, das wir wiederum auf der Tryoshnikov in Empfang nehmen. Unser Tagesgepäck kommt vorerst in den Speisesaal der Tryoshnikov und wir nutzen den Vormittag für individuelle kleine Arbeiten oder Fototouren. Ich verbringe die Zeit auf der Brücke. Derweil beginnen die Stewardessen hier auf der Tryoshnikov mit dem Säubern und Neuherrichten der Kabinen. Gegen 14 Uhr sollen sie für Leg 4 bezugsfertig sein. Auf der Polarstern findet das Prozedere spiegelbildlich statt.


Sortieren des Gepäcks auf den beiden Schiffen

Für Punkt 12 Uhr am 12. August ist die Übernahme der Polarstern durch Leg 5 angesetzt. Eine Planke konnten wir zwischen beiden Schiffen nicht anbringen. Zu groß sind die Höhenunterschiede der Decks. Also muss das Übersetzen durch die Luft gehen. So beginnen die Kräne der Tryoshnikov ab 11 Uhr mit dem Transport der Fahrtteilnehmer von Leg 5. Die Tryoshnikov nutzt dafür keinen geschlossenen Fahrkorb aus Blech wie die Polarstern, sondern einen offenes glockenförmiges Geflecht aus Schiffstauen. Das ist in 15 Metern Höhe eine ganz schön luftige Fahrt von einem Schiff zum anderen, funktioniert jedoch schnell und effektiv.

Übersetzen mit dem Fahrkorb der Tryoshnikov auf die Polarstern

Auf dem Helideck der Polarstern treffen sich Leg 4 und Leg 5 bei schönster Sonne. Für uns ist es ein großes Hallo und Wiedersehen, einige Leute kenne ich ja noch von Leg 2. Sie sind, wie mein Kabinengenosse Jesper, von Leg 2-4 die ganze Zeit an Bord geblieben, oder aber wie Ashild vom Logistikteam, schon zu Leg 4 wieder zu MOSAiC gestoßen. Das Wiedersehen ist nur kurz – und vor allem ist es Abschiednehmen. Etwa 75 Teilnehmer von Leg 4 verlassen die Polarstern und reisen mit der Tryoshnikov nach Hause, 23 Leute bleiben auf dem Schiff und bilden mit uns Neuankömmlingen das Leg 5. Der Abschied für Leg 4 vom Schiff und ihren Freunden ist nach drei ereignisreichen Sommermonaten in der Arktis entsprechend schwer. Für uns wird die Ankunft hingegen besonders fröhlich, denn Leg 4 hat in den langen Wochen der Anreise und Quarantäne einen MOSAiC-Song komponiert und singt ihn nun für uns auf dem Helideck. Wir sind alle begeistert und gerührt.


MOSAiC Song (Musik: Matt Boyer & Ingo, Text: Felix Linhardt)


Übergabe von Leg 4 auf Leg 5 auf dem Helideck mit dem MOSAiC Song

Danach steigt Leg 4 über auf die Tryoshnikov und wir übernehmen die Polarstern. Ich beziehe eine Kajüte direkt benachbart zu der vom Winter – wunderbar, da sind es alles vertraute Wege für mich. Alle Schiffssysteme werden nun auf Leg 5 umgestellt, das am 12. August auf 80°05’ N & 06°10’ W beginnt. Am Nachmittag verabschiedet sich die Tryoshnikov. Sie wird noch einige Tage ein paar weitere Bojen des Distributed Network einsammeln und dann mit Leg 4 nach Bremerhaven zurückfahren.

Wir sind nun allein im arktischen Ozean.


Ablegen der Tryoshnikov von der Polarstern

Doch wo wird es für uns nun hingehen? Das ist die spannende Frage, die alle bewegt und seit Tagen hitzig diskutiert wird. Beim ersten „General Science Meeting“ um 18:30 Uhr erhoffen wir uns darauf Antwort vom Gesamtleiter Markus Rex. Für den letzten Abschnitt von MOSAiC hat jedes der Teams „Ice“, „Ocean“, „Remote Sensing“, „Ecology“ (Eco) und „Biogeochemistry“ (BGC) eigene wissenschaftliche Prioritäten und daraus folgen dann auch je eigene anzupeilende Zielregionen für die Suche nach einer neuen Scholle und entsprechend ein dafür angepasstes Timing.

Team Ocean möchte unbedingt seine CTD-Messungen (Sonde, die bis auf den Meeresboden herabgelassen wird und dabei Temperatur und Salzgehalt bestimmt und in definierten Tiefen Wasserproben nimmt) im Amundsenbecken fortsetzen. Dort gab es zu Beginn von Leg 3 die letzten CTD-Messungen, dann ist das Gerät dafür ausgefallen und erst jetzt wieder funktionsfähig. Demzufolge möchte Team Ocean sein Ozeanprofil also am liebsten dort wieder aufnehmen. Schaut man sich die Bathymetrie (= topographische Gestalt des Meeresbodens) im arktischen Ozean an, so fällt zunächst eine 1800 km langgestreckte untermeerische Schwelle von 60-200 km Breite auf, die sich von den Neusibirischen Inseln aus über den Pol bis hin nach Ellesmere Island in der kanadischen Arktis zieht: der Lomonossowrücken. Er ragt bis zu 3500 m über den etwa 4400 m tiefgelegenen Ozeanboden auf und teilt den arktischen Ozean in zwei Becken auf: Das Amerasische und das Eurasische Becken. Russland sieht den Lomonossowrücken inklusive des Nordpols als Fortsetzung seines sibirischen Schelfgebietes und hat 2001 bei der UN-Festlandssockelkommission beantragt, diese Territorien seinem Seehoheitsgebiet zuzuschlagen. Über den Antrag wird seitdem geopolitisch höchst intensiv verhandelt – bislang ohne abschließende Entscheidung. Auf der Sibirien zugewandten Seite des Lomonossowrückens verläuft parallel ein zweiter langgezogener Rücken, der Gakkelrücken. Er teilt das Eurasische Becken in eine nördliche Hälfte, das Amundsenbecken (auch Pol-Tiefsee-Ebene) und eine Südhälfte, das Nansenbecken (oder Barents-Tiefsee-Ebene). Der zentrale Grabenbruch des Gakkelrückens verläuft etwa entlang einer Linie vom Mündungsdelta der Lena bis ins grönländische Nordostrundingen. Um sicher über den Gakkelrücken und hinein ins Amundsenbecken zu gelangen, müssen wir, je nach geographischer Länge, die Polarstern bis etwa 87° N & 0° E durchs Eis brechen lassen. Das ist ein weiter Weg, der entsprechend viel Zeit kosten wird.


Topografie und Bathymetrie der Arktis (copyright: AMAP Assessment Report)

Für die Teams Ice, Remote Sensing, Eco und BGC steht ein anderer Aspekt im Vordergrund: So schnell wie möglich mit dem Messen beginnen! Wo das passiert, ist dabei eher zweitrangig, es sollte nur südlich von 88° N sein, damit für die Teams Ice und Remote Sensing die relevanten Satelliten zur Verfügung stehen. Ansonsten reicht es für diese Teams aus, eine Scholle zu finden, die stabil genug ist, uns bis Ende September zu tragen. Das ist zu erwarten nördlich einer Zielregion ab 85° N und 0° E. Der Zeitaspekt ist für alle so wichtig, weil in der zentralen Arktis mit dem Tieferfallen des Sonnenstandes in der zweiten Augusthälfte eine neue Periode des Gefrierens beginnt. Wir nennen diese Zeit: Freeze-Up. Das räumliche Minimum der Eisausdehnung im arktischen Ozean wird zwar erst um den 15. September herum erreicht (weil an den Südrändern des Eises weiterhin Schmelzprozesse stattfinden und ebenso an der Unterseite des Eises), aber die Oberfläche des Meereises beginnt in der zentralen Arktis ab dem 20. August neu zu gefrieren. Im Jahreskreislauf der MOSAiC-Expedition fehlt uns genau noch diese initiale Phase des Gefrierens. Zu Beginn der Drift am 4. Oktober 2019 hat Leg 1 die Polarstern nördlich der Neusibirischen Inseln auf 85° N & 135° E an einer bereits weitgehend neu gefrorenen Scholle festgemacht. Jetzt soll der Beginn des Frierens und die frühe Phase der Eisbildung mit dem ganzen Baukasten der parallelen Messungen aller Teams abgebildet werden.

Markus Rex bringt noch einen weiteren Punkt in die Diskussion ein: Da wir unsere ursprüngliche MOSAiC-Scholle vom Oktober 2019 ja Ende Juli 2020 zwischen Grönland und Spitzbergen an das Wasser des Nordatlantiks verloren haben, wäre es für die Vergleichbarkeit der Messungen gut, nun an einer möglichst ähnlichen Scholle weiterzuarbeiten. „Ähnlich“ bedeutet dabei zuallererst, dass die neue Scholle 2.0 ähnliche physikalische Eigenschaften aufweisen sollte wie die alte Scholle und das ließe sich am leichtesten in einer ähnlichen Ursprungsregion finden. Er orientiert auf 86° N & 120° E als Zielregion für die Suche nach unserer neuen Scholle.

Puuuh – die drei Zielregionen von Team Ocean auf 87° N & 0° E und der Teams Ice/RS/BGC/Eco bei 85° N & 0° E und von Markus Rex auf 86° N & 120° E liegen ganz schön weit auseinander. In den Entscheidungsprozess müssen dann eben auch noch die schiffsseitigen Überlegungen mit einfließen: Eis welcher Dicke kann die Polarstern mit welcher Geschwindigkeit und welchem Spritverbrauch brechen? Schließlich wollen wir alle ja pünktlich am 12.Oktober wieder in Bremerhaven einlaufen!


Am Ende wird mit Hilfe von Satellitenkarten der Eisbedeckung festgelegt, von unserer gegenwärtigen Position bei 80° N & 6° W im lockeren Eis gerade gen Norden auf 86° N & 0° E zuzuhalten und dann von dort aus auf einem Großkreis noch ein paar Tage nach Osten zu segeln Richtung 87° N & 100° E. Die ersten Tage fahren wir oft durch gänzlich offenes Wasser, irgendwann gelangen wir in eine Landschaft großer Schollen, die mit Schmelzwassertümpeln bedeckt sind.


Polarstern im typischen Eis der sommerlichen Zentralarktis


Während wir uns mit der Polarstern langsam nach Norden tasten und die ersten Meilen von Leg 5 zurücklegen, erreichen mich aufregende Nachrichten von der anderen Seite des Polarmeeres. Zweitausend Kilometer entfernt, „einmal über den Pol rüber“, kommt uns aus der Beringstraße heraus ein zweites Schiff entgegen: Die „XueLong II“. Da im gesamten arktischen Ozean außerhalb der Küstengebiete im engeren Sinne im Moment nur diese beiden Schiffe Polarstern und XueLong II unterwegs sind, schauen wir naturgemäß neugierig auf die gegenseitigen Positionsdaten. Bei der XueLong II ist unsere Neugier besonders groß – und durchaus von erheblichem Unmut begleitet. Dieses nagelneue Schiff hat seine ganz eigene Verbindung zur MOSAiC-Expedition.

Lange Jahre besaß China nur einen einzigen Forschungseisbrecher – die „XueLong I“. Das in der Ukraine fast fertiggestellte Schiff wurde 1994 aus der Konkursmasse der ehemaligen Sowjetunion preiswert erworben, zum Forschungseisbrecher umgebaut und auf den schönen Namen XueLong, „Schneedrache“, getauft. Zwanzig Jahre betrieb das chinesische Polarforschungsinstitut die 18.000 PS starke XueLong I im Winter als Versorgungsschiff seiner Antarktisstationen und im Sommer als Forschungseisbrecher in der Arktis. Ein ambitionierter Versuch, zum Ruhm der stolzen Wirtschaftsmacht den Nordpol zu erreichen, scheiterte 2012 spektakulär und unter mächtigem, wenngleich diskret in den Fluren der involvierten Außenministerien verhallenden, geopolitischem Getöse. Ende August 2012 war XueLong I klar auf dem Weg zum Pol, hatte sich weit nördlich der sibirischen Eismeerküste in internationalem Gewässer auf 88° N fest-gefahren. Der Schneedrache kam trotz tagelangen Rammens kaum voran. Russland erfuhr davon, und sandte sofort die „Rossija“, mit 44.000 PS einen seiner kleineren nuklearen Eisbrecher. Sie unterbrach ihren Dienst in der Nordostpassage und dampfte 1000 Kilometer gen Pol. Nach wenigen Tagen war die Rossija auf 88° N. Gerade außerhalb der Sichtweite der XueLong I legte sie sich dann in Warteposition – bereit zu helfen, sollte dies nötig sein. Die Chinesen haben in dieser russischen „Hilfsbereitschaft“ genau die klar intendierte Botschaft herausgelesen: „Wenn Ihr Eure polaren Ambitionen in unserem Hinterzimmer ausleben wollt – dann inszenieren wir vor der gesamten Weltöffentlichkeit Euer Scheitern mit der peinlichen Rettung der XueLong I durch einen russischen Atomeisbrecher.“ In Abwägung zwischen „Nordpol“ und „Gesicht wahren“ entschied sich China für die zweite Option, ersparte sich die Blamage und ließ die XueLong I auf 88° N umdrehen. Als ob nichts passiert wäre, trat wenige Tage später auch die Rossija wieder stillschweigend in ihren Dienst in der Nordostpassage zurück. Im chinesischen Polarforschungsinstitut rollten einige Köpfe, der gescheiterte Versuch zum Pol vorzudringen wurde nie öffentlich als solcher eingestanden.

Doch das chinesische Interesse am Pol kam nach dieser unglücklichen Episode keineswegs zum Erliegen; weder in der breiten Öffentlichkeit, noch auf Regierungsebene. Ersteres erfahre ich jeden Sommer, wenn ich als wissenschaftlicher Reisebegleiter für „PolarNews“ mit Touristen zum Nordpol fahre. Von Juni bis August verchartert die russische Reederei „ROSATOMFLOT“ ihren modernsten und mit 75.000 PS auch stärksten Atomeisbrecher, die „50 Jahre des Sieges“ für fünf touristische Fahrten zum Pol an das kanadische Unternehmen „Quark Expeditions“ und an die russische Firma „Poseidon“. Zwei Wochen dauert jede Reise von Murmansk aus zum Pol und zurück. Jeweils etwa 100 Reisegäste aus aller Welt leisten sich für ca. 35.000 Euro dieses exklusive Vergnügen. Mittlerweile stammen fast die Hälfte der Reisegäste aus China und Hongkong!

Seine geopolitischen Ambitionen zu unterstreichen, begann China vor einigen Jahren mit dem Bau des ersten gänzlich eigenen Forschungseisbrechers: der „XueLong II“. Im Dezember 2019 wurde dieser 20.000 PS Eisbrecher in Dienst gestellt und absolvierte seine Jungfernfahrt im südlichen Sommer in der Antarktis. Als Chinas Beitrag zur MOSAiC Expedition sollte die XueLong II die letzte der geplanten Versorgungsfahrten zum Wechsel Leg 4 zu Leg 5 im Juli 2020 absolvieren.


Xuelong II hinter Xuelong I (copyright: China Internet Information Center)

Ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, mit so einem ganz modernen Schiff unterwegs sein zu können. Mit Corona kam dann alles anders. China kündigte Ende April die Teilnahme der XueLong II und ließ MOSAiC mitten in der schwierigsten Zeit ohne Versorgungseisbrecher dastehen. Nun war guter Rat teuer. Zum Glück half Russland schnell und stellte uns die Tryoshnikov zur Verfügung. Wieder einmal ließen sich die Chinesen von einem russischen Eisbrecher vorführen. XueLong II parkte derweil im Hafen von Shanghai. Ob wirklich Corona die Ursache für die Absage war, oder ob es andere Gründe gab, wird man wohl nie erfahren. Gleichwohl bleibt viel Raum für Spekulationen, wenn China so ein wichtiges Projekt ohne wirklich triftigen Grund aufgibt. Wie man auch in Coronazeiten eine Polarexpedition mit ausgeklügeltem Hygienekonzept sicher organisieren kann, beweisen ja das deutsche Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven und sein russisches Pendant, das Arktische & Antarktische Forschungsinstitut in St. Petersburg. MOSAiC hält trotzdem fair seine Zusagen an China ein und wir haben bei Leg 5, wie auf allen Legs, zwei chinesischen Kollegen im internationalen Team der Wissenschaftler mit an Bord .

Mitte Juli, ziemlich zeitgleich mit dem Beginn unserer Leg 5 Quarantäne in Bremerhaven, verläßt die XueLong II dann ihren Heimathafen Shanghai mit Kurs NNE. Ende Juli durchfährt sie die Beringstraße nach Norden. Zehn Tage lang kreuzt sie in der Tschuktschensee bei etwa 75° N & 160° W auf und ab. Von dem Fahrtmuster und der Geologie der Region kann man mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß sie dort seismische Explorationsprofile auf der Suche nach Kohlenwasserstoff-lagerstätten gefahren hat. Das hat uns als MOSAiC-Community schon nachdenklich gemacht – erst kann China „wegen Corona“ mit der XueLong II seine vertraglichen Zusagen zur MOSAiC-Expedition nicht einhalten... und auf einmal kreuzt das gleiche Schiff in genau dem anvisierten Zeittraum auf Erdölsuche fröhlich durch die Arktis??? Hmmm. Doch es soll noch besser kommen: Am 10. August erhalte ich von Freunden daheim anhand der Positionsdaten des Schiffes die Nachricht, daß XueLong II seine seismische Erkundung offenbar beendet hat. Aber sie segelt nun nicht etwa wieder zurück nach China. Nein, der Schneedrache macht sich auf den Weg nach Norden! Als Polarstern am 12.08.2020 auf 80° N & 6° W das Leg 5 beginnt, befindet sich XueLong II auf denselben 80° N auf einer Länge von 168,84° W. Am 13. August mittags ist XueLong II schon auf 81,94° N & 168,94° W und Polarstern auf 80,68° N & 6,65° W. Sie sind 150 km näher am Pol als wir! Zwei Tage später ist Polarstern wieder gut im Geschäft und hat offenbar die besseren Eisbedingungen: Wir sind am 15. August bei 85,20° N & 15,17° W und XueLong II erst auf 84,75° N & 169,02° W. Im Rennen zum Pol haben wir nun 55 Kilometer die Nase vorn.

Rennen zum Pol…? Gibt es überhaupt einen Wettlauf zum Pol? Bislang hat ja niemand, weder die Chinesen, noch MOSAiC, öffentlich erklärt, zum Nordpol zu fahren. Niemand hat die Absicht…? Wenngleich dies im Sommer 2020 sicher ein besonders spannendes Unterfangen wäre, denn coronabedingt hat keine der touristischen Fahrten zum Pol stattgefunden. Im Jahr 2020 hat also noch kein Mensch den Pol erreicht! Und es ist mehr als fraglich, ob es noch ein ziviles Schiff versuchen wird.

Während es für uns mit der Polarstern immer weiter nach Norden geht, können wir uns bei bestem Wetter den ganzen Tag am Eis erfreuen. Noch bis Mitte September wird die Sonne – abhängig von unserer Position und dem Breitengrad – nicht untergehen und wir leben im Polartag. Zum Startpunkt von Leg 5, am 12. August bei 80° N steht die Sonne nachts noch 5 Grad über dem Horizont und mittags im Zenit bei 25 Grad:


Tagesgang der Sonne über dem Horizont für 12. August auf 80° N (copyright: Julia Wenzel, DWD)


Am 16. August hat die Polarstern den Vorsprung auf die XueLong II weiter vergrößert – sie sind bei 85,74° N & 163,90° W und wir auf 86,70° N & 29,34° W. Nun sind wir 90 Kilometer näher am Pol als die Chinesen. Sie haben noch 500 Kilometer vor sich und wir nur noch 410 Kilometer. Der 17. August verschiebt das Rennen weiter zu unseren Gunsten: Polarstern auf 88,18° N & 36,06° W und Xuelong II bei 86,21° N & 161,61° W. Wir liegen nun 200 Kilometer vor den Chinesen und es sind für Polarstern nur noch 180 Kilometer zum Pol.

Doch was ist aus unserem ursprünglichen Plan geworden, mit Polarstern auf 86° N & 0° E zuzuhalten und dann von dort aus nach Osten zu segeln Richtung 87° N & 100° E und dort für MOSAiC die Scholle 2.0 zu suchen? Markus Rex erklärt uns im abendlichen General Science Meeting, daß die Eisbedingungen in diesem grönländischen Sektor der Arktis derzeit überaus günstig sind mit morschem und weichem Eis. Die bislang eingeschlagene Strecke ist daher der schnellste Weg in die Zielregion und wir werden dann erst weiter im Norden, wenn das Eis dicker wird, nach Osten abbiegen. In einer Pressemitteilung im Informationsdienst Wissenschaft (idw) schreibt das AWI dazu:

In diesem Jahr zeigten Satellitenaufnahmen, dass die Eisbedeckung bis jenseits von 87 ° Nord überraschend locker war. So entschieden MOSAiC-Expeditionsleiter Prof. Markus Rex und Polarstern-Kapitän Thomas Wunderlich, von der Position der letzten Versorgung in der nördlichen Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen direkt nach Norden zu fahren. „Wir sind größtenteils im offenen Wasser bis 87° 30’ Nord gelangt, oft mit Wasserflächen bis zum Horizont“, beschreibt Prof. Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung die Situation. „Wir waren uns aufgrund der Satellitenbilder zunächst nicht sicher, ob die lockere Eisbedeckung auf Winde und Strömungen zurückzuführen ist und hatten die Befürchtung, ein Wetterwechsel könnte das Eis wieder zusammenschieben. Das hätte bedeutet, dass wir wie in einer zugeschnappten Mausefalle im Eis eingeschlossen gewesen wären“, berichtet der MOSAiC-Expeditionsleiter. Vor Ort stellte sich jedoch heraus, dass das Meereis tatsächlich großflächig geschmolzen ist, und nicht nur vom Wind auseinander geschoben wurde.“

Erste Woche der Polarstern von Leg 5 mit Kursplot in der grönländischen See gen Nordpol und zum Vergleich der Kursplot der Polarstern auf ihrer Reise PS87 im Jahr 2014 (copyright Polarstern & Ilias-Nasis)


Immer weiter geht es für uns nach Norden. Das Eis bleibt weich und leicht navigierbar. Die Polarstern gleitet mit oft 7 Knoten durch 130 cm wassergesättigtes warmes Sommerreis. Am 18. August erreichen wir 89° N. Die XueLong II hat seit gestern keinen Meter weiter nach Norden geschafft, sie verharren bei 86,04° N und werden uns nicht mehr gefährlich werden. Wir legen einige Stunden Pause ein und lassen die CTD-Sonde bis auf 4000 m Meerestiefe hinab. Derweil kann ich die faszinierende Eislandschaft um uns herum mit ausgedehnten Drohnenflügen einfangen.


Eis mit Schmelzwassertümpeln darauf während eines CTD-Stops der Polarstern, Flughöhe bis zu 500 m

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